In dieser Druckausgabe der Glossa Ordinaria und der Postilla zu den Evangelien von 1498 springt dem Betrachter selbst ohne Lateinkenntnisse diese Grafik ins Auge.

Es handelt sich um einen Abschnitt über die Unterschiede zwichen den Stammbäumen Jesu bei Matthäus und Lukas. Das Bild dient dabei der Illustration dieses Abschnitts:
Mathan autem genuit Iacob.
Contrarium dicitur Luca.3 ubi dicitur, quod Mathat genuit Heli, et Heli genuit Ioseph.
Dicendum quod Mathat et Mathan descenderunt a Dauid, sed Mathat per Nathan, qui fuit filius Dauid adoptiuus, Mathan autem per Salomonem. Et isti duo Mathan et Mathat habuerunt una uxorem successive, et dicta est Hesta, et Hesta a Mathan concepit Iacob, et a Mathat Heli, ista quod Heli, et Iacob fuerunt fratres uterini, sed de duobus fratribus a Dauid diuersimode descendentibus. Heli autem accepta uxore mortuus est sine semine, et ideo Iacob frater eius accepit uxorem fratris sui, ut ei suscitaret semen et genuit Ioseph, ita quod Ioseph fuit filius naturalis ipsius Iacob, et sic accepit eum hic Matthaeus. Fuit autem filius Heli legalis, et sic accepit eum in genealogia Lucas, ut patet in figura sequenti.
[Hier kommt die oben angezeigte Grafik]
Ratio autem quare Matthaeus describit genealogiam Christi per Salamonem filium eius naturalem haec est, quia describit assumptionem nostrae humanitatis a Deo. Lucas autem per Nathan filium adoptiuum, quia describit reductionem nostram in Deum, quae fit per gratiam adoptionis.
Matthan aber zeugte den Jakob
(Mt 1,15). Gegenteiliges wird in Lk 3 gesagt, wo es heißt:Mathat zeugte Eli und Eli zeugte Joseph
(Lk 3,23-24). Man sagt, dass Mathat und Mathan von David abstammen1 sollen, aber Mathat von Nathan, der ein Adoptiv-Sohn des David gewesen ist, Mathan aber von Salomon2. Und diese beiden, Mathan und Mathat hatten nacheinander eine Frau, und sie wurde Esta genannt.3 Und Esta empfing von Mathan Jakob und von Mathat Eli, weil durch diese [Frau] Eli und Jakob leibliche Brüder waren, aber über zwei Brüder von David auf unterschiedliche Weise abstammen. Aber Eli starb, nachdem er eine Frau genommen hatte, ohne Nachkommen, und deshalb nahm sein Bruder Jakob die Frau seines Bruders an, damit er ihm Nachkommen verschaffe4 und zeugte Joseph, so dass Joseph ein natürlicher Sohn dieses Jakobs war und so hat ihn Matthäus hier [in den Stammbaum] aufgenommen. Er war auch rechtlich gesehen der Sohn des Eli, und so hat ihn Lukas in den Stammbaum aufgenommen, wie aus der folgenden Abbildung hervorgeht.

Aber der Grund, warum Matthäus den Stammbaum Christi durch seinen leiblichen Sohn Salomon schildert, ist der, weil er die Annahme unserer Menschseins von Gott schildert. Lukas aber durch den Adoptivsohn Nathan, weil er unsere Zurückführung in Gott, die durch die Gnade der Adoption (=der Annahme an Kindes statt) geschieht, schildert.
Erklärung zur Ausgangsfrage
Wie kommt Lyra überhaupt zu dieser Auskunft? Dazu muss erst einmal das Problem deutlich werden, vor dem er stand.
Die Zeichnung stellt einen Lösungsvorschlag zu einem biblischen Problem dar, das Christen und Christinnen seit der Antike bis in die Gegenwart beschäftigt: Es geht um das Verhältnis der beiden Stammbäume Jesu in den Evangelien nach Matthäus (Mt 1,1-17) und Lukas (Lk 3,23-38). Um nur die gröbsten Schwierigkeiten zu nennen: Nach König David führt der Stammbaum bei Matthäus über Salomon, bei Lukas dagegen über Nathan. Beide Stammbäume nehmen dann einen völlig unterschiedlichen Verlauf, um bei einem Mattan bzw. Mattat wieder zusammenzufinden. Dafür heißt danach der Vater des Josef bei Mt Jakob, bei Lk aber Eli. Dazu kommen noch arithmetische Probleme: Mt spricht in 1,17 von drei mal vierzehn Generationen, bietet aber nur 41 Namen. Bei Lukas sind unterschiedliche Fassungen bekannt: Irenäus von Lyon hatte einen Stammbaum mit 72 Namen vorliegen (Adv. Haer. III,22,3), Augustinus aber einen mit 77 (Contra Faustum Manich. III,4). Nimmt man, wie Joseph Michael Heer es 1910 getan hat, noch weitere Textzeugen hinzu, kann man mit Bruce M. Metzger von „a bewildering variety of readings“ sprechen5.
Dass diese Fragen schon aufmerksamen Lesern in der Antike aufgefallen sind, zeigt sich sowohl bei Kritikern als auch Befürwortern des Christentums. Eusebius von Caesarea (um 263 - 339/340) beginnt in seinem unvollständig erhaltenen Werk „Fragestellungen und Lösungen zu den Evangelien“6 mit Antworten auf folgende Fragen, die ihm ein gewisser Stephanus zu den Stammbäumen vorgelegt hatte:
Α`. Διὰ τί τὸν Ἰωσὴφ, ἀλλ' οὐ τὴν Μαρίαν, οἱ εὐαγγελισταὶ γενεαλογοῦσιν.
Β`. Διὰ τί ὁ μὲν ἄνωθεν ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἀρξάμενος κατάγει τὴν γενεαλογίαν· ὁ δὲ κάτωθεν ἄνεισι, κοὐκ ἐπὶ τὸν Ἀβραὰμ ἵσταται, ἀλλ' ἐπὶ τὸν Ἀδὰμ καὶ Θεόν.
Γ`. Πῶς ὁ μὲν Ματθαῖος ἀπὸ τοῦ Δαβὶδ καὶ Σολομῶνος διαδόχων ἐπὶ Ἰακὼβ καὶ Ἰωσὴφ τὰ γένη κατάγει· ὁ δὲ Λουκᾶς ἀπὸ Δαβὶδ καὶ Νάθαν παιδῶν ἐπὶ Ἡλὶ καὶ Ἰωσὴφ, ἐναντίως γενεαλογῶν τῷ Ματθαίῳ.
- Weswegen ermitteln die Evangelisten die Ahnen des Joseph, aber nicht der Maria?
- Weswegen führt der eine den Stammbaum von oben her zurück, indem er von Abraham an beginnt, der andere aber steigt von unten hinauf und endet nicht bei Abraham, sondern bei Adam und Gott?
- Wieso führt Matthäus die Abstammung von den Nachfolgern des David und Salomon bis zu Jakob und Joseph, aber Lukas von den Kindern des David und Nathan bis zu Heli und Joseph, im Gegensatz zum Geschlechtsregister bei Matthäus?
In der vierten Lösung zum Problem der unterschiedlichen Stammbäume zitiert Eusebius einen längeren Text aus einem Brief des Julius Africanus (stirbt um 240) an einen gewissen Aristides und dieser Text bildet die Grundlage zu der Zeichnung von Lyra. In der Lukas-Katene des Niketas von Heraklea ist dazu folgende Einleitung des Eusebius erhalten geblieben:
(Griechischer Text bei Mai, und bei Migne.)
Damit nun keiner annehme, dass wir [nur] herumreden, werde ich mich auch einer sehr alten Untersuchung bedienen, von der her die Lösung der angenommenen Disharmonie bei beiden Evangelisten zu finden ist. Die Untersuchung hat der Geschichtsschreiber Africanus verfasst, ein gelehrter Mann, berühmt auch bei denen, deren Erziehung von außerhalb [des Christentums her] betrieben wurde. Neben vielen anderen und guten Geschichtswerken hat er auch einen Brief an Aristides über die angenommene Disharmonie der Evangelisten über die Abstammung Christi hervorgebracht. (MÜ)
Dass dieser Text der Niketas-Katene tatsächlich auf Eusebius zurückgeht, erhellt aus einer Anmerkung des Hieronymus, der das griechische Schlüsselwort aus diesem Text – die diaphōnía – also die Disharmonie, den Missklang, in seinem lateinischen Text zitiert:
Iacob autem genuit Ioseph. Hunc locum obicit nobis Iulianus Augustus dissonantiae euangelistarum, cur euangelista Matheus Ioseph filium dixerit Iacob, et Lucas filium eum appellauerit Heli,non intellegens consuetudinem scripturarum quod alter secundum naturam, alter secundum legem ei pater sit. Scimus enim hoc per Moysen Deo iubente praeceptum ut, si frater aut propinquus absque liberis mortuus fuerit, alius eius accipiat uxorem ad suscitandum semen fratris uel propinqui sui. Super hoc et Africanus temporum scriptor et Eusebius Caesariensis in libris diaphonias euangeliorum plenius disputarunt. (CCSL LXXVII, S. 9)
Jakob aber zeugte Joseph (Mt 1,16) Diese Stelle hat uns Kaiser Julian als Dissonanz der Evangelisten zum Vorwurf gemacht: Warum sollte Matthäus den Joseph einen Sohn des Jakob genannt und Lukas ihn als Sohn des Eli bezeichnet haben? Allerdings begreift er nicht die Eigentümlichkeit der Schriften, dass für ihn der eine der leibliche, der andere der rechtliche Vater sei. Denn wir wissen dies durch Moses, der auf Gottes Anweisung hin befahl, dass, wenn ein Bruder oder Verwandter ohne Kinder sterben würde, ein anderer seine Ehefrau annehmen sollte, um seinem Bruder oder Verwandten Nachkommenschaft zu erzeugen. Darüber haben sowohl Africanus, der Verfasser der Chroniken, als auch Eusebius von Caesarea in Büchern die Disharmonien der Evangelien (diaphonias euangeliorum) ausführlicher diskutiert. (Kommentar zu Mt 1,16; MÜ)
Walter Reichardt hat 1909 in „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur“ die erhaltenen Fragmente dieses Briefes des Africanus an Aristides veröffentlicht7. Eusebius hat hier einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet, indem er eine längere Passage des Briefes auch in seine Kirchengeschichte (HE III,7) aufnahm.8
Lyra hat also nichts anderes gemacht, als die Erklärungen des Africanus via Eusebius in eine leicht fassliche Grafik zu bringen. Von ihm übernimmt er auch das Bild von den verschlungenen (polýpokos) Aspekten der beiden Stammbäume, die er gekonnt umgesetzt hat.
Bei Matthäus lautet die Abfolge am Ende des Stammbaums Mattan→Jakob→Josef→Jesus; bei Lukas dagegen Mattat→Eli→Josef→Jesus.
Die beiden Stammbäume laufen bis David einigermaßen synchron, aber dann führt Matthäus die Linie über den Daviden Salomon, während bei Lukas die Abkunft über den Davidssohn Nathan führt, der in 2 Sam 5,14, 1 Chr 3,5; 14,4 immer vor Salomon genannt wird.
Diesen Namen hat Lyra von Julius Africanus übernommen; vgl. Eusebius HE I,7,8. Dort heißt die Frau Ἐσθα.
Africanus bzw. Lyra berufen sich hier auf das Institut der Leviratsehe Dtn 25,5–10, das ja bereits im Stammbaum des Matthäus im Zusammenhang mit Juda und Tamar eine Rolle gespielt hatte (Gen 38).
A textual Commentary on the Greek New Testament (²2012) S. 113
Sie wurden erstmals von Angelo Mai (1782-1854) in der Bibliotheca Nova Patrum, Band 4 ab S. 219 auf Grund der Handschrift Vaticanus Palatinus Gr. 220 veröffentlicht. Diese Ausgabe wurde dann die Grundlage der Veröffentlichung bei Migne (1800-1875) in der Patrologia Graeca Band XXII ab Spalte 879.
Eine gemeinfreie Übersetzung findet sich in den Ante Nicene Fathers.
Ein Blick in die syrische Fassung der Kirchengeschichte kann auch hier wiederum von Interesse sein, sie findet sich hier. Eberhard Nestle hat sie dankenswerter Weise ins Deutsche übersetzt.