Herrad von Landsberg (gest. 1195) als Äbtissin des Klosters Hohenburg auf dem Odilienberg im Elsass, verfasste ein mittelalterliches Meisterwerk, den Hortus Deliciarum, das sie möglicherweise selbst illustrierte1. Die Prachthandschrift umfasste ca. 324 Blätter, von denen etwas mehr als ein Fünftel illustriert waren. 700 Jahre nach der Entstehung wurde die kostbare Handschrift durch ein Feuer zerstört, dass die preußische Artillerie bei der Belagerung von Straßburg in der zweitwichtigsten Bibliothek Frankreichs auslöste. Mit mehr als vierhunderttausend Bänden wurde auch der Hortus Deliciarum zerstört.

Glücklicherweise haben durch Kopien etliche Seiten des Meisterwerks in einer Form überlebt, die die Pracht der ursprünglichen Handschrift nachvollziehen lassen. In dieser französischen Ausgabe von 1899 habe ich folgendes Bild entdeckt, dessen Motiv mich sofort interessiert hat:

Leviathan im Hortus Deliciarum Pl. XXIV

In der selben französischen Ausgabe findet sich auch diese Ansicht mit eingetragenen Beschreibungen der einzelnen Bild-Elemente.

Beschriftetes Bild des Leviathan im Hortus Deliciarum

Ich gebe hier die genaue Beschreibung von Johannes Zellinger wieder, in Klammern meine Übersetzung der lateinischen Ausdrücke.:

„Eine bärtige Figur, nimbiert, in schreitender Stellung und antiker Gewandung, hält in der Rechten eine Angelrute, während die Linke im Redegestus sich erhebt und das Gesicht mit versorgtem und versonnenem Ausdruck die Handlung begleitet. Die Angelschnur, die mit deutlich sichtbarem Knoten an das Rutenende geknüpft ist und senkrecht zur Tiefe geht, trägt in ihrem Verlaufe, hart aneinander gereiht, eine Folge von sieben Medaillons mit ergrauten bärtigen Greisenköpfen und mündet in ein Kreuz aus, dessen Längebalken nach unten hin zu einem Haken sich umbiegt. Vor dem Kreuze steht oder schwebt in Orantenhaltung der jugendliche unbärtige Christus. Hände und Füße sind nicht angenagelt. Das Haupt ist mit Kreuznimbus und Königskrone geschmückt. Wie man sieht, haben wir den Kruzifixus in der Auffassung des frühen Mittelalters vor uns. Nicht der leidende und sterbende Dulder der gotischen und der neueren Zeit, sondern der Todüberwinder und der souveräne Sieger soll dargestellt werden (Regnavit a ligno Deus). (Vom Holz her herrscht Gott)

Der Angelhaken, etwa von der Krümme an schwarz gehalten, um den darüber gezogenen Köder anzudeuten, durchbohrt die Kiemen eines Seeungeheuers, das mit verrenktem Kopfe und weitgeöffnetem Rachen sich bäumt und windet.

Zur Erläuterung ward der wunderlichen Angelszene folgender Text beigeschrieben, der mit Ausnahme eines Satzes dem Speculum ecclesiae des Honorius Augustodunensis entnommen ist (Taf. XIV bis); Über der Figur des Anglers: Divinitas. Divinitas hamum in mare saeculi mittit. (Göttlichkeit. Die Göttlichkeit wirft einen Angelhaken in das Meer der Welt.)

Unter der Figur des Anglers: Christus assumpsit dominicum honorem, dicit Augustinus; idem Christus assumpsit naturam, quae in ipso est dominicus homo. (Christus hat die Ehre des Herrn angenommen, sagt Augustinus; derselbe Christus hat die(jenige) Natur angenommen, die in ihm der herrliche (=göttliche) Mensch ist.)2

Bei den sieben Medaillons: Patriarchae et prophetae. (Patriarchen und Propheten)

Rechts vom Angelhaken und vom Kopfe des Seeungeheuers: Jesus Christus perforat maxillam Leviathan. (Jesus Christus durchbohrt den Oberkiefer des Leviathan)
Aculeus divinitatis. (Der Stachel des Göttlichkeit)
Leviathan est piscis marinus similis draconi et significat diabolum. (Leviathan ist ein Meeresfisch, einem Drachen ähnlich, und symbolisiert den Teufel.)

Am Schweifende des Leviathan: Lapis, qui frontem Goliae penetravit, erat divinitas, quae maxillam Leviathan perforavit.“ (Der Stein, der die Stirn des Goliath durchdrang, war die Göttlichkeit, die den Oberkiefer des Leviathan durchbohrte.) 3

Die ganze Zeichnung ist die Illustration einer Bibel-Auslegung durch Papst Gregor den Großen (um 540-604). Sie findet sich in seinen Moralia in Job.

Gregor der Große (um 540-604)

Sed Leuiathan iste hamo captus est, quia in Redemptore nostro dum per satellites suos escam corporis momordit, diuinitatis illum aculeus perforauit. Quasi hamus quippe fauces glutientis tenuit, dum in illo et esca carnis patuit, quam deuorator appeteret, et diuinitas passionis tempore latuit, quae necaret. In hac quippe aquarum abysso, id est in hac immensitate generis humani, ad omnium mortem inhians, uitam paene omnium uorans, huc illucque aperto ore cetus iste ferebatur; sed ad mortem ceti istius hamus in haec aquarum profunda caligosa mira est dispositione suspensus. Huius hami linea illa est per euangelium antiquorum patrum propago memorata. Nam cum dicitur: Abraham genuit Isaac, Isaac genuit Iacob. cumque ceteri successores interposito Ioseph nomine usque ad Mariam uirginem describuntur, quasi quaedam linea torquetur, in cuius extremo incarnatus Dominus, id est hamus iste ligaretur, quem in his aquis humani generis dependentem aperto ore iste cetus appeteret, sed eo per satellitum suorum saeuitiam morsu, mordendi uires ulterius non haberet. Ne ergo iste humanis mortibus cetus insidians quos uellet ultra deuoraret, hamus hic fauces raptoris tenuit, et sese mordentem momordit. Incarnationem igitur unigeniti Filii fideli famulo indicans Deus, ait: An extrahere poteris Leutiathan hamo? Subaudis ut ego, qui ad raptoris mortem incarnatum unigenitum Filium mitto, in quo dum mortalis caro conspicitur, et immortalitatis potentia non uidetur, quasi hamus quidam inde deuorantem perimat unde acumen potentiae quo transfigat occultat. (CCSL CXLIII B S. 1687-1688)

Meine Übersetzung:

Aber dieser Leviathan wird mit einem Haken gefangen, weil ihn bei unserem Erlöser der Stachel seiner Göttlichkeit durchbohrte, als er durch seine Schergen den Köder seines Körpers biss. Denn ein Haken hielt gleichsam den Schlund des Verschlingenden fest, als durch diesen [Erlöser] sowohl der Köder seines Fleisches erschien, den der gierig Schnappende verlangte, als auch die Göttlichkeit zur Zeit der Passion verborgen war, die [den Leviathan] töten sollte. Denn indem er in diesem Abgrund der Wasser, das bedeutet in dieser unermesslichen Größe des Menschengeschlechts4, nach dem Tode aller schnappt, bewegt sich dieser Wal mit offenem Maul hierhin und dorthin, wobei er beinahe aller Leben verschlingt. Aber für den Tod dieses Wals war da dieser Haken in dieser düsteren Tiefe der Wasser durch wundersame Fügung aufgehängt. Die Angelschnur dieses Hakens ist die Nachkommenschaft der alten Väter, die durch das Evangelium berichtet worden ist. Denn wenn es heißt Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob (Mt 1,2) und die anderen Nachfahren durch die Einfügung mit dem Namen des Joseph bis zu Maria, der Jungfrau, beschrieben werden, so wird gleichsam eine Angelschnur ausgerollt, mit deren Ende der inkarnierte Herr, das bedeutet dieser Haken, verbunden werden konnte. Den begehrte dieser Wal mit offenem Maul, als er in diesen Wassern des Menschengeschlechts hing, aber mit dem diesem Biss (=durch die Grausamkeit seiner Schergen) sollte er nicht weiter die Möglichkeiten haben, zuzubeißen. Damit also dieser Wal, der den menschlichen Toden nachstellte, nicht weiterhin diejenigen verschlingen sollte, die er wollte, hielt der Haken diesen Schlund des Räubers fest und biss den, der nach ihm biss. Gott sagt daher, indem er seinem gläubigen Diener die Inkarnation seines einziggeborenen Sohnes mitteilt: Kannst du Leviathan an einem Haken herausziehen? (Job 40,20 Vulg. = Job 40,25 in heutigen Bibelausgaben). Du verstehst, wie ich, der ich den inkarnierten einziggeborenen Sohn für den Tod des Räubers sende, an dem man, während man sterbliches Fleisch sieht, die Macht der Unsterblichkeit nicht erkennt, der gleichsam wie ein Haken den vernichtet, der ihn verschlingt und daher die Schärfe der Kraft verbirgt, mit der er durchbohrt. (Moralia in Job XXXIII,9,17)

Der Grundgedanke ist: Der Teufel ist verantwortlich für den Tod des Menschengeschlechts (Weish 2,24), weil er die ersten Menschen im Garten Eden betrog. Er wird seinerseits betrogen, wenn nach dem Köder des menschgewordenen Gottessohnes schnappt und sich dabei gleichsam an dessen Göttlichkeit verschluckt. Natürlich hat diese seltsame Deutung eine Vorgeschichte.

Die Deutung des Leviathan als Teufel findet sich bereits mit Bezug auf die von Gregor ausgelegte Passage des Job-Buches bei Origenes (185-253):

Origenes (185-253)

In einem längeren Abschnitt seines Werkes Gegen Kelsos, in der es um den Teufel in den biblischen Texten geht, kommt Origenes auf die oben von Gregor besprochene Job-Stelle:

καὶ ἐν τοῖς τελευταίοις δὲ τοῦ Ἰὼβ, ἐν οἷς ὁ κύριος διὰ λαίλαπος καὶ νεφελῶν εἶπε τῷ Ἰὼβ τὰ ἀναγεγραμμένα ἐν τῇ ὁμωνύμῳ βίβλῳ αὐτοῦ, οὐκ ὀλίγα ἐστὶ περὶ δράκοντος εἰρημένα λαβεῖν.
(GCS 3 (1899) S. 114)

Gegen Ende des Buches Hiob aber, wo der Herr aus dem Wetter und den Wolken zu Hiob die Worte sprach, die in dem gleichnamigen Buch aufgezeichnet sind, kann man nicht wenig finden, was auf den Drachen Bezug hat. (Contra Celsum VI,43; Ü: Paul Koetschau für die BKV)

Seitdem hat sich die Deutung Leviathan=Teufel weiter verbreitet. Was sich ebenfalls bereits bei Origenes findet, ist die Vorstellung vom Kreuzestod Jesu als Täuschung bzw. Falle für den Satan.

καὶ διὰ τοῦτο ὁ πατὴρ »τοῦ ἰδίον υἱοῦ οὐκ ἐφείσατο. ἀλλ` ὑπὲρ ἡμῶν πάντων παρέδωκεν αὐτόν«, ἵν` οἱ <ἄρχοντες οἱ> παραλαβόντες αὐτὸν καὶ παραδόντες αὐτὸν εἰς χεῖρας ἀνθρώπων. ὑπὸ τοῦ κατοικήσαντος »ἐν τοῖς οὐρανοῖς« ἐγγελασθῶσιν καὶ ὑπὸ τοῦ κυρίου ἐκμυκτηρισθῶσιν, εἰς κατάλυσιν τῆς ἰδίας βασιλείας καὶ ἀρχῆς παρὰ προσδοκίαν παραλαβόντες ἀπὸ τοῦ πατρὸς τὸν υἱόν, ὅστις τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἠγέρθη τῷ τὸν ἐχθρὸν αὐτοῦ θάνατον κατηργηκέναι καὶ ἡμᾶς πεποιηκὲναι »συμμόρφους«. οὐ μόνον »τοῦ θανάτου αὐτοῦ« ἀλλὰ καὶ »τῆς ἀναστάσεως«, δι` ὂν »ἐν καινότητι ζωῆς« περιπατοῦμεν. οὑκέτι καθεζόμενοι »ἐν χώρᾳ καὶ σκιᾷ θανάτου«. διὰ τὸ ἀνατεῖλαν ἐφ` ἡμᾶς »φῶσ«x τοῦ θεοῦ.
(GCS XL, 205)

Und deswegen hat der Vater »den eigenen Sohn nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben« [Röm 8,32], damit die, welche ihn erhielten und in die Hände der Menschen auslieferten, von dem, »der in den Himmeln« wohnt [Ps 2,3], ausgelacht und von dem Herrn verspottet würden, da sie zur Zerstörung ihres eigenen Reiches und ihrer Herrschaft wider Erwarten vom Vater den Sohn ausgeliefert bekamen, welcher am dritten Tage auferstand, da er seinen Feind, den Tod, niedergezwungen hat und uns nicht nur »seinem Tode«, sondern auch seiner »Auferstehung gleichgestaltet« hat; seinetwegen wandeln wir »in der Neuheit des Lebens« [Röm 6,4] und sitzen nicht mehr »im Land und Schatten des Todes« [Mt 4,16], weil über uns das Licht Gottes aufgegangen ist. (Matthäus Kommentar XIII,9; Ü: Hermann H. Vogt)5

Bei den Griechischen Vätern tritt dann zu dem Motiv vom Teufel als betrogenem Betrüger noch der seltsame Vergleich des menschgewordenen Gottessohnes mit einem Köder. Das biblische Stichwort dazu dürfte der Vers aus Ps 22 geliefert haben, dessen Eingansgworte Jesus in der Markus- und Matthäuspassion in den Mund gelegt wurden (Mk 15,34/Mt 27,46). In Vers 7 dieses Psalms heißt es dann:

⁷ Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. (REÜ)

Cyrill von Jerusalem (um 315-386)

In seinen Homilien an die Neugetauften kommt der Jerusalemer-Bischof auf den geköderten und betrogenen Teufels zu sprechen:

Διὰ παρθένου τῆς Εὔας ἦλθεν ὁ θάνατος, ἔδει διὰ παρθένου, μᾶλλον δὲ ἐκ παρθένου, φανῆναι τὴν ζωήν· ἵνα ὥσπερ ἐκείνην ὄφις ἠπάτησεν, οὕτω καὶ ταύτην Γαβριὴλ εὐαγγελίσηται. Καταλιπόντες ἂνθρωποι Θεὸν, ἐδημιούργησαν ἀνθρωπόμορφα ξόανα. Ἀνθρωπόμορφου τοίνυν ὡς Θεοῦ ψευδῶς προσκυνουμένου, Θεὸς ἀληθῶς ἄνθρωπος ἐγένετο, ἵνα λυθῇ τὸ ψεῦδος. Ὀργάνῳ τῇ σαρκὶ καθ` ἡμῶν ἐκέχρητο ὁ διάβολος. Καὶ τοῦτο γινώσκων ὁ Παῦλος, λέγει· Βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσί μου, ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου, καὶ αἰχμαλωτίζοντά με, καὶ τὰ ἑξῆς. Δι` ὠν οὔν ὅπλων ὁ διὰβολος ἡμας κατηγωνίζετο, διὰ τοὺτων αὐτῶν ἐσώθημεν. Ἀνελαβε τὸ ὅμοιον ἡμῶν ἑξ ἡμῶν ὁ Κύριος, ἵνα τὴν ἀνθρωπότητα σώσῃ· ἀνελαβε τὸν ὂμοιον ἡμῶν, ἵνα τῷ λείποντι μείζονα δῷ τὴν χάριν, ἵνα ἡ ἄνθρωπότης ἡ ἁμαρτωλός Θεοῦ γενηται κοινωνὸς. Ὅπου γὰρ ἐπλεόνασεν ἡ ἁμαρτία, ὑπερεπερίσσευσεν ἡ χάρις. Ἒδει παθεῖν ὑπὲρ ἡμῶν τὸν Κύριον, ἀλλ` οὐκ ἂν ἐτολμησε προσελθεῖν ὁ διάβολος, εἰ ᾒδει τοῦτον· Εἰ γὰρ ἔγνωσαν, οὐν ἂν τὸν Κύριον τῆς δόξης ἐσταύρωσαν. Δέλεαρ τοίνυν τοῦ θανάτου γέγονε τὸ σῶμα, ἵνα ἐλμίσας καταπιεῖν ὁ δράκων, ἐξεμεσῃ καὶ τοῦς ἥδη καταποθεντας· Κατέπιε γὰρ ὁ θάνατος ἰσχύσας· καὶ πάλιν· Ἁφεῖλεν ὁ Θεὸς πᾶν δάκρυον ἀπὸ προσώπου παντός.
(MPG XXXIII, 741)

Da durch eine Jungfrau, die Eva, der Tod kam, sollte auch durch eine Jungfrau bzw. aus einer Jungfrau das Leben erscheinen. Während jene von einer Schlange betrogen wurde, sollte diese von Gabriel die frohe Botschaft erhalten. Nachdem die Menschen Gott verlassen hatten, machten sie sich geschnitzte Menschengestalten. Da sie sich betrogen durch göttliche Verehrung von Menschengestalten, wurde Gott, um dem Betrug ein Ende zu machen, wahrhaft Mensch. Der Teufel bediente sich des Fleisches als Waffe im Kampfe gegen uns, weshalb Paulus sagt: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, welches kämpft wider das Gesetz meines Geistes und mich gefangen hält usw.“ (Röm 7,23). Durch die gleichen Waffen nun, mit welchen uns der Teufel bekämpfte, wurden wir erlöst. Der Herr nahm etwas von uns an, um die Menschheit zu befreien. Von uns nahm er etwas an, damit er dem, der Mangel leidet, um so größere Gnade schenke, damit die sündhafte Menschheit an Gott teilhabe. „Denn wo die Sünde mächtig wurde, strömte die Gnade über.“ (Röm 5,20) Der Herr mußte für uns leiden; doch hätte der Teufel, wenn er ihn gekannt hätte, es nicht gewagt, sich an ihn heranzumachen. „Denn wenn sie ihn gekannt hätten, hätten sie nicht den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt.“ (1 Kor 2,8) Sein Leib ist eine Lockspeise des Todes geworden; aber der Drache, der die Hoffnung hatte, ihn zu verschlingen, sollte sogar diejenigen, welche er bereits verschlungen hatte, wieder ausspeien. „Denn der mächtige Tod hatte sie verschlungen“ (Jes 25,8), und wiederum heißt es: „Gott trocknete ab von jedem Angesicht jede Träne“ (Jes 25,8).
(XII. Katechese an die Täuflinge, 15; Ü: Philipp Haeuser für die BKV)

Was Haueser hier als Lockspeise übersetzt, bedeutet so viel wie Köder. Was noch fehlt, ist das Stichwort des Leviathan.

Gregor von Nyssa (um 335-395)

Auch Gregor arbeitet in seiner Katechetischen Rede ganz selbstverständlich mit dem Bild des Fisches, des Köders und der Angel:

ἐπειδὴ γάρ, καθὼς ἐν τοῖς ἔμπροσθεν εἴρηται, φύσιν οὐκ εἶχεν ἡ ἐναντία δύναμις ἀκράτῳ προσμῖξαι τῇ τοῦ θεοῦ παρουσίᾳ καὶ γυμνὴν ὑποστῆναι αὐτοῦ τὴν ἐμφάνειαν, ὡς ἂν εὔληπτον γένοιτο τῷ ἐπιζητοῦντι ὑπὲρ ἡμῶν τὸ ἀντάλλαγμα, τῷ προκαλύμματι τῆς φύσεως ἡμῶν ἐνεκρύφθη τὸ θεῖον, ἵνα κατὰ τοὺς λίχνους τῶν ἰχθύων τῷ δελέατι τῆς σαρκὸς συγκατασπασθῇ τὸ ἄγκιστρον τῆς Θεότητος, καὶ οὕτω τῆς ζωῆς τῷ θανάτῳ εἰσοικισθείσης καὶ τῷ σκότῳ τοῦ φωτὸς ἐπιφανέντος ἐξαφανισθῇ τὸ τῷ φωτὶ καὶ τῇ ξωῇ κατὰ τὸ ἐναντίον νοούμενον· οὐ γὰρ ἔχει φύσιν οὔτε σκότος διαμένειν ἐν φωτὸς παρουσίᾳ, οὔτε θάνατον εἶναι ζωῆς ἐνεργούσης.
(Quelle: James Herbert Srawley: The Catechetical Oration of Gregory of Nyssa. Cambridge, at the University Press (1903) S. 92-93)

Weil nämlich, wie oben gezeigt wurde, die uns feindselige Macht nicht imstande war, sich mit dem unverhüllt gegenwärtigen Gott in Verbindung zu setzen und seine rein himmlische Erscheinung zu ertragen, so hat sich Gott, um dem sein Lösegeld für uns Verlangenden zugänglich zu werden, unter der Hülle unserer Natur verborgen, damit, wie es bei gierigen Fischen zu geschehen pflegt, mit dem Köder des Fleisches zugleich der Angelhaken der Gottheit verschluckt werde, und so durch Überführung des Lebens in den Tod und durch Aufgang des Lichtes in der Finsternis das dem Leben und dem Tode Entgegengesetzte vernichtet werde; denn weder kann die Finsternis fortbestehen, wenn das Licht erscheint, noch der Tod existieren, wo das Leben wirkt.
(Große Katechese XXIV,1; Ü: BKV)

Laurence William Grensted verdanke ich den Hinweis6, dass dieses Gedankengut wohl durch die Vermittlung von Tyrannius Rufinus in den lateinischen Westen gelangte.

Tyrannius Rufinus (um 345-410)

Rufin hatte die Katechesen des Gregor von Nyssa aus der griechischen Sprache übersetzt und war daher mit dem Motiv des geköderten Leviathan vertraut. In seiner Auslegung des Glaubensbekenntnisses schreibt der ehemalige Freund und spätere Todfeind des Hieronymus:

Nam sacramentum illud susceptae carnis, quod supra exposuimus, hanc habuit causam, ut diuina Filii Dei uirtus, uelut hamus quidam, habitu humanae carnis obtectus et, sicut apostolus paulo ante dixit, habitu repertus ut homo, principem mundi inuitare posset ad agonem: cui ipse carnem suam uelut escam tradens, hamo eum diuinitatis intrinsecus teneret inserto,et profusione immaculati sanguinis – solus est enim qui peccati maculam nescit – omnium peccata deleret: eorum dumtaxat, qui sanguine eius postes fidei suae signassent. Sicut ergo hamum esca contectum si piscis rapiat, non solum escam cum hamo remouet, sed et ipse de profundo, esca aliis futurus, educitur: ita et is qui habebat mortis imperium, rapuit quidem in mortem corpus Iesu, non sentiens in eo hamum diuinitatis inclusum; sed ubi deuorauit, haesit ipse continuo, et diruptis inferni claustris, uelut de profundo extractus trahitur, ut esca ceteris fiat. Quod ita futurum sub hac eadem figura Ezechihel dudum propheta signauerat, dicens: Et extraham te in hamo meo et extendam te super terram. Campi inplebuntur de te et constituam super te omnes uolucres caeli et saturabo ex te omnes bestias terrae. Sed et Dauid dicit: Dedit eum in escam populis Aethiopum. Et Iob de eodem mysterio similiter protestatur: ait enim ex persona Dei loquentis ad se: /Aut adduces draconem in hamo aut pones capistrum circa nares eius. (Expositio Symboli XIV; CCSL XX, S. 151-152) (Comm. in Symb. Ap. XIV)

Denn jenes Geheimniß der Fleischwerdung, von welchem wir oben handelten, hat diesen Zweck, daß die göttliche Kraft des Sohnes Gottes gleichsam wie ein gewisser Köder durch das Äussere des menschlichen Fleisches verdeckte und (wie der Apostel Paulus vorher sagte: „Im Äussern wie ein Mensch erfunden“) den Fürsten der Welt zum Kampfe einladen konnte, und daß er ihn, indem er ihm sein Fleisch wie zur Speise übergab, durch die Angel der Gottheit innerlich gefesselt hielt in der Vergießung des unbefleckten Blutes. Denn er allein, der die Makel der Sünde nicht kennt, hat die Sünden Aller getilgt: derer nämlich, die mit seinem Blute die Pfosten ihres Glaubens zeichneten. Gleichwie also ein Fisch, wenn er eine mit Speise verdeckte Angel (Haken) erfaßt, nicht nur die Speise vom Haken nicht löst, sondern auch selbst aus der Tiefe hervorgezogen wird, um dann Andern zur Speise zu dienen: so hat auch Derjenige, welcher die Herrschaft des Todes besaß, den Leib Jesu im Tode zwar an sich gerissen, ohne aber zu merken, daß in demselben der Angelhaken der Gottheit eingeschlossen war; sondern da er verschlang, blieb er selbst für immer hängen und wurde, nachdem die Schranken der Hölle zersprengt waren, wie aus der Tiefe hervorgezogen um Andern zur Speise zu werden. Daß Dieß so kommen werde, hatte unter diesem selbigen Bilde der Prophet Ezechiel schon lange vorher angekündigt mit den Worten: „Und ich werde dich hervorziehen in meiner Angel, und ich werde dich zerstreuen über die Erde. Die Fluren werden angefüllt werden von dir, und setzen werde ich über dich alle Vögel des Himmels und sättigen aus dir alle Thiere der Erde.“ (Ez 32,3-4) Doch auch der Prophet David sagt: „Du hast zerschmettert die Häupter des grossen Drachen, du hast ihn gegeben zur Speise den Völkern der Äthiopier.“ (Ps 73,14) Und Job legt über dasselbe Geheimniß in ähnlicher Weise Zeugniß ab; er spricht nämlich im Sinne des Herrn, der zu ihm redet: „Oder du wirst herbeischleppen den Drachen im Angelhaken und einen Halfter legen um seine Nase.“ (Job 40,20; Ü: Heinrich Brüll für die BKV)

Hier ist im wesentlichen das Material vorhanden, dass Gregor der Große später verwenden sollte.

Augustinus (354-430)

Auch Augustinus kennt das Motiv vom betrogenem Betrüger und vom Gekreuzigten als Köder für den Satan.

Dominus autem servos suos et creavit et redemit: creavit, ut essent; redemit, ne semper captivi essent. Incidimus enim in principem hujus saeculi, qui seduxit Adam et servum fecit, et coepit nos tanquam vernaculos possidere. Sed venit Redemptor, et victus est deceptor. Et quid fecit Redemptor noster captivatori nostro? Ad pretium nostrum tetendit muscipulam crucem suam: posuit ibi quasi escam sanguinem suum. Ille autem potuit sanguinem istum fundere, non meruit bibere. Et in eo quod fudit sanguinem non debitoris, jussus est reddere debitores; fudit sanguinem innocentis, jussus est recedere a nocentibus. (MPL XXXVIII, 726)

Der Herr aber hat seine Sklaven erschaffen und erlöst. Er hat erschaffen, damit sie existieren konnten; er hat erlöst, damit sie nicht für immer Gefangene sein sollten. Wir sind nämlich an den Fürsten dieser Welt geraten, der Adam verführt und zum Sklaven gemacht hat, so wie er begonnen hat, auch uns als Haussklaven zu besitzen. Aber der Erlöser ist gekommen und der Betrüger wurde besiegt. Und was tat unser Erlöser dem, der uns gefangen genommen hatte? Als unser Lösegeld spannte er sein Kreuz als Falle auf: er legte dort sein Blut gleichsam als Köder aus. Jener aber konnte dessen Blut vergießen, er verdiente es nicht, es zu trinken. Und dadurch, dass er das Blut dessen vergoss, der kein Schuldner war, wurde er gezwungen, die Schuldner herauszugeben. Er vergoss das Blut des Unschuldigen, er wurde [daher] gezwungen, von den Übeltätern abzulassen. (Sermo CXXX)

Wie verbreitet diese Vorstellungen im lateinischen Raum waren, kann man auch daran sehen, dass Petrus Lombardus diese Passage im Lib. Sent. III,XIX,2(56) zitiert. Ich kehre noch einmal zu den Ausführungen von Gregor dem Grossen zurück, um zu zeigen, dass er sich bei seinen Erklärungen auch auf Hieronymus bezog.

Hieronymus (um 347-419/420)

Gregor beginnt den von mir weiter oben übersetzten Abschnitt mit den Worten:

Leuiathan quippe additamentum eorum dicitur. Quorum uidelicet, nisi hominum? Quibus semel culpam praeuaricationis intulit et hanc usque ad aeternam mortem cotidie pessimis suggestionibus extendit. Quibus dum reatum fenore peccati multiplicat, poenas procul dubio sine cessatione coaceruat. Potest quoque Leuiathan etiam per irrisionem uocari. Primo quippe homini persuasione callida diuinitatem se additurum perhibuit, sed immortalitatem tulit. Additamentum ergo hominum per irrisionem dici potuit, quibus dum hoc quod non erant se addere spopondit, etiam hoc quod erant fallendo subtraxit. (CCSL CXLIII B S. 1687)

Denn Leviathan bedeutet ihre Hinzufügung. Wessen [Hinzufügung], außer natürlich der Menschen? Bei denen er ein für alle Mal die Schuld der Übertretung herbeiführte und diese Tag für Tag durch übelste Vorschläge bis zum ewigen Tod ausdehnte. Während er bei ihnen die Schuld der Sünde mit Zinsen vervielfacht, häuft er ohne Zweifel die Strafen ohne Unterlass an. Er kann ebenfalls auch zum Spott Leviathan genannt werden. Denn er erzählte dem ersten Menschen mit verschlagener Überredung, dass er Göttlichkeit gewinnen werde, aber er nahm [ihm dadurch die] Unsterblichkeit. „Hinzufügung der Menschen“ kann er also zum Spott heißen: Während er ihnen versprach, das hinzuzufügen, was sie nicht waren, nahm er ihnen durch Betrug auch das weg, was sie waren. (Moralia in Iob, XXXIII,9,17)

Wie kam Gregor auf die Idee, dass „Leviathan“ ihre Hinzufügung bedeute? Diese Auskunft hatte er (ohne Quellenangabe) von Hieronymus, der in seinem Liber de Nominibus Hebraicis geschrieben hatte:

Leviathan, additamentum eorum (MPL XXXIIIb 883)

Leviathan bedeutet: Ihre Hinzufügung.

Wie kommt Hieronymus zu dieser Etymologie? Gesenius leitet Leviathan von לִוְיָה = „gewunden“ ab. Hieronymus dürfte von der Wurzel לוה ausgegangen sein, das Verb bedeutet „begleiten“. In diese Richtung äußert sich auch Jakob Barth zu diesem Verb, allerdings ohne Verweis auf den Leviathan.

In einem seiner Briefe bringt Hieronymus dann das vertraute Bild:

ero mors tua, o mors; ero morsus tuus, inferne, illius morte tu mortua es, illius morte nos uiuimus. deuorasti et deuorata es, dumque adsumpti corporis sollicitaris inlecebra et auidis faucibus praedam putas, interiora tua adunco dente confossa sunt. (CSEL LIV, S. 550)

Ich werde dein Tod sein, o Tod. Ich werde dein Biß sein, Hölle (Hos 13,17). An seinem Tode bist du gestorben, wir leben durch seinen Tod. Du hast verschlungen und bist verschlungen worden. Die Lockspeise (illecebra) des Körpers, den er angenommen, reizt dich. Mit gierigem Schlunde witterst du Beute und deine Eingeweide sind durchbohrt von des Hakens Spitze (adunco dente). (Epistula LX,2; Ü: Johannes Zellinger)7

Zusammenfassung und Abschluss

Der überragende Einfluss von Gregor dem Großen auf die Auslegung des Buches Job8 garantierte der Interpretation vom Leviathan als Symbol für den Teufel, der sich an der Göttlichkeit Jesu verschluckt, eine umfangreiche Wirkungsgeschichte. Bis in die bildende Kunst hinein fand das Motiv Verbreitung. Ich verweise hier nur auf die Darstellung in der zehnten Arkade des Brixener Doms und deren Detail aus dem Kreuzgang dieses Bauwerks. Verwiesen sei auch auf die Zeitschrift für christliche Kunst Nr. 8 (1902 ) Spalte 238 Nr. 9 (via Europeana.eu), die belegt, dass es dieses Bild auch einmal in St. Emmeran in Regensburg gab.

Eine weitere Gedächtnisspur führt via Walter Benjamin zu Goethes Wahlverwandtschaften. In seinen Illuminationen schreibt Benjamin: „Im Namen der Ottilie wies er [=Goethe] auf die Heilige, der als Schutzpatronin Augenleidender im Schwarzwald9 ein Kloster gestiftet war. Er nennt sie einen »Augentrost« der Männer, die sie sehen, ja man darf in ihrem Namen auch des milden Lichtes sich erinnern, das die Wohltat kranker Augen und die Heimat allen Scheins in ihr selbst ist.“10 Herrad war Äbtissin dieses Klosters auf dem Odilienberg.

Die wirkungsmächtigste Assoziation verbindet sich wohl mit dem Leviathan des Thomas Hobbes – hier ein Link zur Originalausgabe von 1651. Aber hier geht es nicht mehr um Christologie, sondern um Staatstheorie. Im Prinzip beruht die Auslegung Gregors und seiner Vorläufer auf derselben assoziativen Verknüpfung wie bei Hobbes und Benjamin, nur dass sie sich rein auf den innerbiblischen Bereich beschränkt. Mit der ursprünglichen Aussageabsicht des Job-Textes hat sie nichts zu tun. Ob ihre christologische Grundannahme tragfähig ist, erscheint mir auf Grund des Umstands, dass der Teufel in den kanonischen Passionserzählungen so gut wie keine Rolle spielt11, fragwürdig. Dass der betrogene Teufel eine auch jenseits der mittelalterlichen Theologie weit verbreitet Vorstellung wurde, steht auf einem anderen Blatt.


1

„Ob Herrad auch den bildlichen Teil des Kodex eigenhändig ausgeführt hat, ist nirgendwo direkt ausgesprochen, wäre aber durchweg möglich.“ (Johannes Zellinger: Der geköderte Leviathan im Hortus deliciarum der Herrad von Landsperg; in: Historisches Jahrbuch, 45. Band, 2. und 3. Heft (1925) S. 162)

2

Was mit dieser Aussage gemeint ist, wird klarer duch die Auslegung des Thomas in STh III, q. 16, a. 3. Herzlichen Dank an Dr. Michael Margoni-Kögler für diesen wertvollen Hinweis!

3

Zeillinger, S. 163 a.a.o.

4

Zu Wassern als Bild für das Menschengeschlecht vgl. Offb 17,15

5

Origenes: Der Kommentar zum Matthäusevangelium. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Hermann J. Vogt. Erster Teil. Anton Hiersemann, Stuttgart (1983) S. 254. Den Hinweis auf diese Auslegung des Origenes verdanke ich Ferdinand Christian Baur in „Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung“ (1838) S. 50 ff. Die Seiten des Digitalisates sind leider arg durcheinander geraten - oder war schon die Druckvorlage so beschaffen?

6

Laurence William Grensted: A short History of the Doctrine of the Atonement, Longmans, Green & Co. (1920) S. 42-43

7

In: Der geköderte Leviathan im Hortus deliciarum der Herrad von Landsperg, S.169 a.a.o.

8

„The Gloss on Job is almost entirely a re-working on Gregory the Great’s Moralia in Iob and must have been easy to compile.“ Lesley Smith: The Glossa Ordinaria. The Making of a Medieval Bible Commentary; Brill (2009) S. 32 Fn. 56

9

Hier irrt Benjamin, es war im Elsass.

10

Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften; Suhrkamp (1977) S. 121

11

Die einzige Ausnahme bildet m.E. Lk 22,3 mit Joh 13,27.