Wie ich in diesem Beitrag schon gezeigt habe, verwendete Nikolaus von Lyra Zeichnungen, um seine Auslegung zu verdeutlichen. Warum tat er das? Ich meine, dass ihm Raschi auch hierin ein Vorbild gewesen ist und möchte das an einem konkreten Beispiel demonstrieren.

In der Ausgabe des Raschi-Kommentars von Abraham Berliner aus dem Jahr 1866 findet sich in Hebräischer Sprache und in Raschischrift folgende Anmerkung des Herausgebers zu Raschis Kommentar zu Num 34,3 (im Apparat auf S. 300 unter der Nummer 5).

Aus dem Raschi Kommentar
Aus dem Raschi Kommentar Edition A. Berliner 1866

Ich habe ihn in die hebräische Quadratschrift übertragen und dann übersetzt:

בכילמ״ס (=בכתבי יד ל׳ מ׳ ס׳) העמידו בפרשה זו ציורים של תחומי הארץ הנצרכים לפירוש רש״י וממה שכתב הרשב״ם "רבנו זקיני פירש וצייר תחומין" נראה שגם רש״י בעצמו עשה ציורים מגבולי הארץ לבאר יותר את דבריו על ידם׃

In den Handschriften L, M und S platzierten sie in diesem Torah-Abschnitt Zeichnungen von den Grenzen des Landes [Kanaan], die notwendig sind für den Kommentar Raschis. Und von dem [handelt], was der Raschbam geschrieben hat: „Unser Lehrer, mein Großvater, kommentierte und zeichnete die Grenzen“ [des Landes Kanaan]. Anscheinend ist es so, dass auch Raschi selbst Zeichnungen von den Grenzen des Landes [Kanaan] gemacht hat, um seine Worte durch sie besser zu erklären.

Dank Mayer I. Gruber1 weiß ich, was Berliner mit den Handschriften L+M+S gemeint hat:

  • L = Leiden Scaliger I
  • M = München 5
  • S = Saraval

Rashbam ist Samuel Ben Meir, der Enkel Raschis, der von den Zeichnungen seines Großvaters erzählt hat. Ein Beispiel für die Zeichnung zu den den Grenzen des Landes Kanaan findet sich in der vielleicht wichtigsten Raschi-Handschrift, Leipzig UB fol. 1, die laut Kay Joe Petzold auf etwa 1250 datiert werden kann, an dieser Stelle – Raschis Auslegung zu Num 34,2. Hier das Bild in Vergrößerung.2

Skizze im Raschi Kommentar
Skizze im Raschi Kommentar der Universität Leipzig

Hier die vollständige Aussage von Rashbam, die er in seinem eigenen Kommentar zu Num 34,2 getroffen hat:

זאת הארץ אשר תפל לכם בנחלה - רבינו זקיני פירש וצייר תחומין ואף על פי כן אפרש בקוצר: כי תחלה פירש הכתוב גבול דרום ואחר כך גבול מערב, כי הים הגדול הוא גבול מערבי ואחר כך צפון ואח"כ מזרחי׃

Das ist das Land, das euch als Erbe zufallen soll (Num 34,2). Unser Lehrer, mein Großvater, erklärte und zeichnete die Grenzen [des Landes Kanaan]; und trotzdem möchte ich [sie] in Kürze erklären: Denn zuerst erklärt die Schrift die Grenze des Südens und danach die Grenze des Westens, denn das große Meer (= das Mittelmeer) ist die westliche Grenze, und danach den Norden und danach die östliche [Grenze].

Die wunderbare, 1233 in Würzburg entstandene Raschi-Handschrift BSB Cod.hebr.5(1) zeigt auf ihrer Seite 140r was geschieht, wenn diese Skizze von professionellen Illustratoren ausgeführt wurde, bei denen es sich übrigens um Christen gehandelt haben dürfte. (Ich habe diese Karte hier transkribiert)

Ausgearbeitete Zeichnung
Ausgearbeitete Zeichnung im Würzburger Raschi Kommentar von 1233

Ich möchte jetzt an einem Beispiel demonstrieren, dass diese Zeichnungen Lyra wohl bekannt waren und ihn beeinflusst haben dürften. Zeigen kann ich das am Beispiel der Skizze des Siebenarmigen Leuchters, der ja in Ex 25,31-40 beschrieben wird. Auch hier findet sich in der Leipziger Handschrift eine Skizze, die ich hier vergrößert darstelle:

Skizze des Leuchters
Skizze zur Beschreibung des Leuchters in Ex 25 MS Leipzig

Dass diese Skizze Schule gemacht hat, kann ich jetzt an den folgenden Prachthandschriften der Postilla zeigen. Ich beginne mit der MS. Bodl. 251 aus der Bodleian Library vom Ende des 14. Jahrhunderts, hier wieder ein Ausschnitt:

Der doppelte Leuchter
Der doppelte Leuchter in MS Bodl. 251 Fol 049v © Bodleian Libraries, University of Oxford. Terms of use: CC BY-NC 4.0.

Warum wird der Leuchter zweimal dargestellt? Die Beschriftung gibt Auskunft: Links steht figura candelabri secundum Ra[bbi] Sa[lomon] und rechts figura candelabri secundum alios doctores. Also das Modell des Leuchters nach Raschi und nach dem anderer (christlicher) Lehrer.3 Das Motiv findet sich auch in einer weiteren Prachthandschrift, diesmal aus Italien stammend, heute in der John Rylands Library in Manchester aufbewahrt, die die Entstehung nicht nach 1402 ansetzt:

Der doppelte Leuchter
Der doppelte Leuchter in MS-LATIN-00029/119 © The John Rylands Library. (CC BY-NC 4.0)

Die Beschriftung ist identisch mit der der MS Dodl. 251. Ich meine, dass diese Illustrationen auch Vorbild für die Erstellung der Cranach-Bilder in der Lutherbibel geworden sind.

Leuchter und Schaubrottisch
Nachdruck der Lutherbibel von 1927 mit den Bildern von Lucas Cranach

Was aber, wenn den Schreibern der Handschriften keine fähigen Künstler zur Verfügung standen? Eine in Prag aufbewahrte Handschrift der Postilla aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt das deutlich. Für die Illustrationen zum Heiligtum (Ex 25 ff.) wurde im Text Platz gelassen, aber nur das Bild des Hohepriesters wurde ausgeführt. Leuchter, Schaubrottisch, Brandopferaltar und Vorhänge wurden nicht gemalt.

/Auslassung_in_der_Prager_Handschrift.png (Zur Bild-Quelle)

Auslassung der Zeichnungen zum Bundeszelt, V.C.14 Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag CC-BY-NC-SA

Dieses Beispiel zeigt, dass die eher einfacher gehaltenen Skizzen von Raschi besser geeignet waren, kopiert zu werden, das sie an die Kopisten keine großen zeichnerischen Anforderungen stellten.


1

Siehe Mayer I. Gruber: What happened to Rashi's Pictures? The Bodleian Library Record (1992), Vol. XIV,2, S. 114. Berliner hat die von ihm verwendeten Handschriften hier aufgelistet.

2

Zu genaueren Erklärung siehe den hervorragenden Aufsatz von Petzold.

3

Dass dieser Vergleich zwischen Raschi und einer christlichen Deutung nicht untypisch für Lyra ist, hat Deeana Copeland Klepper am Beispiel der Bundeslade gezeigt. Vgl. ihr Werk: The Insight of Unbelievers. Nicholas of Lyra and Christian reading of Jewish Texts in the Later Middle Ages (2007) S. 52 ff.